ein langer Tag

Freitag, den 20. Juli 2007

Ich wache um zehn nach vier auf, aber schlafe wieder ein. Dann wache ich erneut auf, mein Wecker hat immer noch nicht geklingelt. Ich denke, dass es nun aber bald mal soweit sein müsste und just in diesem Moment lässt mich der schrille Piepton hochschrecken. Es ist fünf vor sechs und ich habe gleich einen Gesprächstermin mit meinem Vater. Ich stehe auf, gehe kurz ins Bad und schließe dann die Tür zur Küche, um Jill gegebenenfalls nicht zu wecken, ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie im Haus ist. Ich mache das Licht an und klingele meinen Vater an. Er ruft zurück (Hilfe, ist das laut, wenn es ruhig ist!), aber die Verbindung dauert nur fünf Minuten, weil bei Peter im Moment ein hoher Andrang herrscht. Verständlich um diese Zeit, Amerika und Australien passen im Moment beide zur deutschen Zeit.
Ich schildere die Situation zu dem Zeitpunkt, als ich gestern mit ihm telefoniert habe, und vor allem auch, was danach passierte. Wir erörtern die Situation und weitere Vorgehensweise. Ich werde noch mit der Beratungslehrerin an der Schule sprechen, schließlich brauche ich auch deren Unterstützung bei einem etwaigen Gastfamilienwechsel.

Dann gehe ich noch ein wenig in mein Zimmer. Als ich frühstücken gehe, ist Stuart drinnen. Er fragt mich, ob ich mit meinem Vater telefoniert hätte. Ich sage ihm, dass ich das schon gestern nach der Schule abgemacht hätte.
Der Schulbus ist pünktlich (zumindest soweit ich das ohne Uhr abschätzen kann), aber Samira steht auch heute nicht an der Straße. Vor der Schule gehe ich, als das allmorgendliche staff briefing im Lehrerzimmer abgeschlossen ist, zu meiner program manager in an der Schule und erzähle ihr, dass ich womöglich meine Gastfamilie wechseln werde. Sie fragt nach, warum und ich erzähle ihr meine Geschichte, während es zur Homegroup und dann zur Stunde klingelt. Sie sagt, sie würde Charlotte anrufen und einmal mit ihr sprechen. Während einer Übergangsphase könne ich auch bei ihre wohnen, sie habe schon Schüler über SCCE gehabt und ihre Kinder seien gerade alle außer Haus, zum Teil wie ich im Ausland.

Der Unterricht gestaltet sich genau so angenehm wie zuvor, abgesehen von dem komischen Gefühl, dass mich den ganzen Tag begleitet, und widerspiegelt, dass ich nicht weiß, wohin mich mein Weg führen wird und auch nur wenig Einfluss darauf habe. Dass ich zur ersten Stunde zu spät komme, scheint mein Mathelehrer nicht sonderlich schlimm zu finden. Er sagt nichts – wobei das auch daran liegen kann, dass wir uns zu dem Zeitpunkt nicht im Frontalunterricht befinden. Heute gibt es nur eine Stunde Mathe für mich, die zweite habe ich Physik in einer angenehm kleinen Lerngruppe von nur gut zehn Schülern. Der Lehrer – der, als er sich mir vor der Stunde vorstellte, ganz selbstverständlich meinte, ich könne ihn gerne auch Michael nennen – bringt uns nahe, wie wissenschaftliches Denken in Modellen funktioniert.
Dann folgen zwei Stunden Business Management. Es geht um Kommunikation – heya! Das ist doch mal praxisnaher Unterricht. In der zweiten Stunde sind wir in der Bibliothek, um einigen Fragen – oder vielmehr deren Antworten – auf die Schliche zu kommen. Ich nutze die Zeit am Computer allerdings anderweitig.
Dann folgt die große Pause (die eine Stunde werde ich in Deutschland wohl echt vermissen) und auch ich begebe mich nach einigen Minuten aus der Bibliothek nach draußen. Kein mir bekanntes Gesicht ist zu sehen, aber zwei Mädchen, die ich gestern schon einmal gesehen habe, fragen mich, ob ich mit herüber kommen möchte und dort sitzen sie alle: Austauschschüler und Anhang (oder andersherum). Irgendjemand treibt einen Football auf und nachdem ich mich anfänglich sträube, versuche ich dann doch einmal, ihn zu kicken. Gar keine so einfache Sache, aber ich bin ja nicht der einzige Anfänger, auch die zwei anderen Australienneulinge versuchen sich daran. Es ist auf jeden Fall faszinierend, dass ein einfacher Football eine Gruppe von 15 Schülern mit einem relativ kleinen Platzbedarf eine ganze Zeit lang beschäftigen kann – und das auch noch Spaß macht. Hat irgendwie etwas, wenn der Ball zu einem kommt und man ihm nicht hinterher rennen muss. Und erinnert mich ein wenig an die Ballspiele der Oberstufler in meiner Schule in den Pausen.
Nach der Pause bin ich überpünktlich am Raum für den Englischunterricht. Er ist zu (was aber nicht verwunderlich ist, da die Räume das meist sind) und abgedunkelt, aber dann kann ich plötzlich den Sound von Windows XP hören, der erklingt, wenn man sich einloggt. Ich klopfe ein und mir wird geöffnet. Meine Englischlehrerin scheint zwischenzeitlich ihr Gespräch mit Charlotte geführt zu haben. Sie teilt mir mit, dass sie eine Nachricht für mich habe: Wenn ich nach Hause käme, müsse ich wieder packen. Charlotte würde mich diesen Nachmittag mitnehmen. Ich setze mich in die erste Reihe auf den gleichen Platz wie gestern auch. An die freie Sitzwahl in jeder Stunde habe ich mich noch nicht so ganz gewöhnt. Als die anderen Schüler eintreffen (zwei Mädchen setzen sich noch einmal zu mir nach vorne um und wir halten ein wenig Smalltalk), gucken wir nach einigen Anlaufschwierigkeiten mit dem Beamer wieder Gattaca. Die bekannte Geschichte zieht nur so an mir vorbei, ich lasse mich mehr oder weniger berieseln.
Als letztes Fach an diesem Tag winkt foods. Auf dem Weg dorthin erzähle ich der Austauschschülerin aus Brasilien, dass ich vielleicht die Schule wechseln würde und was gestern passiert ist. Sie zeigt sich ein wenig erschüttert darüber und bittet um meine E-Mail-Adresse für den Fall, dass heute mein letzter Tag an dieser Schule ist. Heute ist eine Theoriestunde und wir besprechen hauptsächlich, was man alles wissen muss, um für seine Familie die Mahlzeiten für die kommende Woche zu planen. Interessant, dass man sowas als Unterricht verkaufen kann. Aber es gibt sogar ein Lehrbuch und mit schon fast naturwissenschaftlicher Präzision werden dort Dinge vermittelt wie ein Praxistest, der belegen soll, dass Silikonprodukte bessere Resultate beim Kochen hervorbringen als ihre Vorgänger.

Im Bus nach Hause sitzt Samira wiederum. Wir reden ein wenig – über die Sitzbank hinweg, weil sich jemand anders neben mich gesetzt hat. Als sie aussteigt, sagt sie zu mir: „Bis Montag“ und ich denke nur „vielleicht“. Sie wird von ihrer Familie an der Haltestelle abgeholt: Ich kann Vater, Mutter und Gastbruder durch die Autofenster sehen.

Als ich auf die Farm komme, trinke ich etwas, Hunger habe ich nicht (Und ich kann jetzt auch nachvollziehen, warum Hanna in der Schule sagte, dass Jungen während ihres Aufenthalts üblicherweise eher abnehmen). Dann mache ich mich daran, meine Sachen zusammenzusuchen. Viel verteilt habe ich nicht, alles ist auf mein Zimmer konzentriert, selbst Zahnbürste und Zahnpasta habe ich jeden Tag wieder in die Kulturtasche zurückgeräumt. So, als wäre es ganz selbstverständlich, dass ich die Sachen bald wieder zusammensuchen müsste.
Stuart kommt herein und fragt mich, ob ich mit einem der Lehrer über die Probleme gesprochen habe. Er habe nämlich einen Anruf aus der Schule erhalten. Ich verneine – meine Ansprechpartnerin an der Schule ist zwar auch meine Englischlehrerin, aber ich habe nicht als diese mit ihr gesprochen, sondern mit ihr als program managerin. Stuart meint ein wenig zynisch, dass das dann wohl jemand anders gewesen sein müsse.

Kurze Zeit später ist alles fertig gepackt, nur die Farmkleidung ist noch im Schrank. Ich brauche ein wenig mehr Platz als auf der Reise von Deutschland, das liegt aber daran, dass ich alles nur mehr oder weniger ordentlich in den Koffer verfrachtet habe. Ich setze mich in die Küche und warte auf Charlotte.

Jill kommt von der Arbeit und setzt sich zu mir. Sie fragt, ob ich die Gastgeschenke für meine nächste Familie mitnehmen wollen würde. Ich verneine – schließlich sind es Geschenke und mein Anstand sagt mir, dass sie hier bleiben sollen.
Dann erzählt sie mir, was sie schon viel früher hätte erzählen sollen: Was sie an mir stört. Und ich finde es verwunderlich, dass es sie stört, wenn ich, mit dem Essen fertig, während sie Zeitung liest und Stuart die Post bearbeitet, für einige Sekunden meinen PDA zücke und eine handschriftliche Notiz mache. Oder, dass es sie stört, wenn ich in meinem Zimmer sitze, wo sie und Stuart diejenigen sind, die nahezu den ganzen Tag arbeiten und damit nicht einmal greifbar sind. Und auch ein anderes Missverständnis kommt heraus: Mit „We don’t mind you using the phone.“ meinte Jill nicht, dass ich mit meiner CallingCard telefonieren kann, wenn das notwendig ist. Sondern dass ich, wenn ich von der Schule komme und einen Gesprächstermin mit meinem Vater abmachen möchte, bitte doch vorher extra deshalb nach draußen zu Stuart gehen solle, um ihn zu fragen.
Eigene Fehler räumt sie dabei nicht wirklich ein. Sie sagt zwar, dass es wohl auch möglich sei, dass die beiden welche gemacht hätten, aber sie hätten schließlich schon so viele Austauschschüler gehabt – auch erfolgreiche -, dass sie das für eher unwahrscheinlich hält. Dann muss sie nach draußen zu Stuart.
Ja ja, das ist alles so eine Sache mit der Kommunikation. Manchmal klappt sie und manchmal nicht. Hier wohl eher nicht.

Um viertel nach fünf fährt Charlotte auf den Hof. Ich sehe sie aus dem Küchenfenster zu mir herüberwinken und fragen, ob Jill und Stuart auf dem Hof seien. Ich bejahe und setze mich wieder hin.

Nach einiger Zeit kommt sie ins Haus. Es ist das erste Mal, dass wir uns sehen, bisher haben wir nur E-Mails geschrieben und telefoniert. Wir holen meine Sachen aus dem Zimmer und packen sie ins Auto. Jill und Stuart kommen herüber und wechseln noch einige Worte mit Charlotte. Ich habe das Gefühl, dass Stuart betont lässig wirken möchte, als gehe ihn all das gar nichts an und er habe Charlotte gerade beim Einkaufen getroffen. Dann ist es soweit, wir fahren los. Stuart hat nicht einmal geantwortet, als ich mich verabschiedet habe. Irgendwie stellvertretend für meine Erlebnisse in den vergangenen Tagen.

Wir fahren los und Charlotte beginnt zu erzählen. Sie erklärt mir, warum sie mich aus dieser Familie herausgeholt hat. Zum einen gäbe es Personen, die einfach nicht zueinander passen. Zum anderen seinen Jill und Stuart definitiv nicht froh gewesen mit dem, wie es war. Und dass ich mich in der Schule mitgeteilt habe, hätte bestätigt, dass auch ich nicht froh war. Sie erwähnte beiläufig, dass Stuart sie gebeten hätte, mich aus der Familie zu nehmen. Die nächste Zeit würde ich erst einmal bei ihr wohnen. Ihre zwei Töchter und ihr Mann wüssten allerdings noch nichts davon.
Meine positive Grundstimmung bekommt allerdings einen kleinen Dämpfer, als Charlotte mir mitteilt, dass mein Laptop und auch mein MP3-Player für drei Wochen erst einmal in ihrer Obhut verweilen würden. Damit, dass in ihrem Haushalt keine Gameboys existieren, kann ich da schon wesentlich besser klarkommen. Es sei allerdings alles nur zu meinem Besten, damit ich mich besser einleben könne. Jill hatte meine Aufenthalte in meinem Zimmer ihr gegenüber wohl angeführt.
Aber ich könne den Familiencomputer benutzen – für eine halbe Stunde am Tag.

Als wir uns Shepparton nähern, wird mir klar, dass das Leben hier doch etwas anders ist. Shepparton erscheint – trotz dessen, dass es dunkel ist – wesentlich größer und belebter als Numurkah und erst recht als Invergordon (wenn man dort überhaupt von Leben sprechen kann, von Tieren einmal abgesehen).
Ein Schulwechsel stünde nun an (und damit werden meine Befürchtungen Wirklichkeit), Charlotte wohnt direkt neben einer Schule mit einem Namen, den man sich nicht merken kann – irgendetwas mit „W“. SCCE hat bei der Schule angefragt und man warte nun auf eine Zu- oder Absage. Ich hoffe, dass ich an dieser Schule genau so gut aufgenommen werde wie in Numurkah und vor allem, dass die Fächer so gut passen. Ich bin sehr betrübt über den Wechsel. Ich mag die Lehrer, die Leute, den Unterricht und nicht zuletzt natürlich auch die Tatsache, dass mittwochs frei ist.

In meinem neuen Übergangszuhause wohnen neben Charlotte und ihrem Mann Grant noch zwei Kinder: Rush und Jol. Rush für Rushlee und Jol für Jolina. Eine weitere Tochter wohne nicht mehr zu Hause, sie ist schon 21.
Charlotte warnt mich vor, Rush würde nur eine Lautstärke kennen: laut. Und ich fühle mich ein wenig an Nathalie erinnert. Sie sagt auch, welche Behinderung Rush genau hat, aber der Begriff ist Englisch und ich kenne die Übersetzung nicht – meinen PDA habe ich zwar in der Tasche, möchte ihn aber ungern herausholen. Nicht, dass der sich auch noch für drei Wochen verabschiedet.

Mein einziger Job wird sein, mein Zimmer sauber zu halten, von einigen Gelegenheitsjobs abgesehen. Den Kontakt zu meinem Amateurfunkfreund würde Charlotte gerne sehen. In Sachen Essen und Trinken darf ich mir selbst helfen – und als sie die Wendung „may help yourself“ benutzt, die im Flyer von SCCE bei den empfohlenen Fragestellungen zum Einleben aufgeführt ist, fühle ich mich doch ein wenig wie in „der“ Musterfamilie für Austauschschüler. Charlotte hatte schon einige Austauschschüler und sagt deshalb selbst, sie kenne sich mit teenage boys aus.
Ich frage, wie das denn so mit Frühstück sei – die Antwort ist: „just help yourself when you get up“. In der Woche ist die Zeit des Aufstehens durch die Schule vorgegeben, samstags ist 10 Uhr in Ordnung, sonntags auch mal später.

Als wir ankommen, finden wir zwei Kinder vor: Die eine vorm Fernseher, die andere am Computer. Rush einzuschätzen ist schwierig, ich halte sie zunächst für die Jüngere der beiden.
Charlotte zeigt mir mein Zimmer, es ist das Zimmer ihrer größten Tochter. Es ist in Blau gehalten, nur an einer Wand sind neben blauen auch rosane und grüne Farbstreifen zu finden. Groß ist es nicht und auch nicht übermäßig voll: Ein Holzbett steht darin und einen Wandschrank gibt es auch, in dem ich einige Fächer erhalte.
Im Haus gibt es ein paar Tiere. Der Hund, „Anger“, mag mich – ich ihn auch, obwohl er etwas klein ist und viel zu viel Fell hat. Zumindest im Vergleich mit einem Labrador. Bei den Goldfischen bin ich mir nicht so ganz sicher, wie sie zu mir stehen.

Charlottes Hund 'Anger'

Charlottes Katze

Schon kurze Zeit später fahren wir los, Charlotte nimmt mich mit in die Bibliothek. Dort gucke ich mich ein wenig um (und bemerke als erstes die Internetarbeitsplätze). Dann suche ich mir ein Buch, zunächst soll es ein englisches sein. Ich entscheide mich für eines aus der Abteilung für Teenager: „Ads ‚r‘ us„. Dann stöbere ich noch ein wenig in dem Regel für deutsche Bücher, wo auch einige interessante Werke verweilen. Anscheinend hat jemand kürzlich einige aktuelle Bücher bestellt.
Jol und Charlotte finden auch etwas zu lesen, dann fahren wir wieder zurück. Durch das dunkle Shepparton, am Fluss entlang.

Zurück zu Hause gibt es erst einmal Essen: Ganz klassisch englisch – Grant hat „fish and chips“ geholt. Leckere Sache und passt recht gut in meinen europäischen Geschmack. Danach ist erst einmal Big Brother dran.

Als ich danach kurz nach acht Uhr ins Bett gehe, denke ich über den Tag nach. Ein schwieriger Tag, alles nicht so ganz einfach. Ich bin mir unsicher, wie ich mit der Tatsache, dass ich nun hier wohnen soll, umgehen soll. Ich überlege, ob ich lieber darum hätte bitten sollen, das Angebot von heute Vormittag annehmen zu dürfen. Und über all diese Überlegungen sinke ich in den Schlaf.


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