Monatsarchiv für Juli 2007

Oh sorry! *hmpf*

Mittwoch, den 18. Juli 2007

Halb sechs. Ich bin wach und genieße die einzigen Stunden am Tag, in denen ich mir relativ sicher sein kann, dass mich niemand in meiner Ruhe stört. Dann, um elf Minuten nach sechs das allmorgendliche Tuten. Ich habe keine Ahnung, woher es kommt, aber es ist jeden Tag da um die selbe Zeit und nach so ungefähr zehn Sekunden hört es abrupt wieder auf.

Um kurz nach acht stolpere ich mehr oder weniger in die Küche. Als Jill fragt, wie es mir ginge (nicht, dass sie wirklich fragen würde, nur das übliche „How are you doin‘?“), antworte ich mit dem sonst für Stuart typischen „not bad“ und überlege im gleichen Moment, dass das eigentlich nicht so wirklich wahr ist.
Kurz darauf kommt Stuart hinein und beginnt zu frühstücken. Er zweifelt wieder an, dass ich morgen zur Schule rechtzeitig auf sein würde. Dann sagt er: „It’s warm outside, isn’t it? Oh, sorry – you may probably not know! Probably“. Irgendwann, irgendwann…

Jill fragt mich, ob ich heute Nacht im Schlaf gesprochen habe und mir fällt einer meiner Träume wieder ein. Sie sind allesamt schlecht gewesen, wie alle, seit ich hier bin.
Während eines Traumes bin ich aufgewacht und weiß noch, dass ich gegen die Wand geschlagen habe; die Storyline eines anderen bestand daraus, dass jemand mit einem Auto gegen so einen großen, runden Bierwagen gefahren ist, wie es sie auf größeren Sportveranstaltungen gibt.
Aber sie sind nicht interessiert, zu erfahren, was ich geträumt habe. Es war eben halt nur das übliche „How are you doin‘?“ heute morgen, genau so wie sie es fragen, wenn sie eine Nummer aus einer Werbeanzeigen anrufen und sich nach Preisen erkundigen. Nicht das „Wie geht es dir, mein Sohn?“.

Als er mit dem Essen fertig ist, sieht Stuart stillschweigend eine CSI-Folge. Ich mache die Milch alle (schon fast unglaublich bei 2-Liter-Packungen und 160 Kühen, die zwei Mal am Tag gemolken werden) und frage ihn, ob noch welche im Kühlschrank bei der Melkmaschine ist. Nein, da sei keine mehr, sagt er. Im Moment würde alles passen, meine ich. Das müsse es auch, entgegnet Stuart, er würde nämlich nicht aufstehen, um neue zu holen.
Später setze ich mich zu ihm und gucke die CSI-Folge bis zum Ende, obwohl ich sie schon kenne. Es ist interessant, die Schauspieler mit ihrer eigenen Stimme anstelle der Synchronstimme sprechen zu hören.
Als er wieder rausgeht, räume ich einiges Geschirr in die Schränke. Eine der Aufgaben, die ich gerne erledige: Es ist wärmer als draußen und ich laufe Stuart mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht über den Weg.

Heute benutze ich zum ersten Mal für längere Zeit dem Wärmestrahler im Badezimmer, denn obwohl es ein wenig wärmer geworden ist, ist es immer noch bitterkalt dort drinnen. Nicht zum ersten Mal habe ich heute wieder die Wahl zwischen Verbrühungen und Erfrierungen und ich kann mich genau so wenig für eines der beiden entscheiden wie die Dusche. Und dann fällt mir wieder auf, dass ich anscheinend der einzige in diesem Haushalt bin, der sich darum sorgt, dass es noch andere Leute geben könnte, die die Dusche benutzen, und etwaige Haare zumindest in den Ausguss spült.
Trotz der Wärme, die der Strahler verbreitet, sind meine Hände und Füße eiskalt. Ich glaube, ich werde keine Heizung mehr brauchen, wenn ich nach Deutschland zurückkomme.

Im Radio höre ich wieder P!nk und kann zumindest ein wenig entspannen. Stuart ist draußen und füttert irgendwelche Kühe auf irgendwelchen Weiden, mir ist das herzlich egal. Ich hole nur kurz Holz und entschwinde dann wieder nach drinnen. Wir haben übrigens, anders als ich es Samira gestern erzählte, doch so eine Art motorbike, glaube ich. In Deutschland würde ich es wohl Quad nennen. Stuart fährt mit solch einem Gefährt und einem Trailer voll mit Futter zu den Kühen.
Ich blättere ein wenig durch die Broschüren von STEP IN und lächle ein wenig verbittert über Passagen wie „Deine Gastfamilie möchte Dich als richtiges Familienmitglied in ihr Leben eingliedern, also Erfahrungen und Spaß mit Dir teilen“ oder „Ein Hauptgrund dafür, Dich als zusätzliches Familienmitglied aufzunehmen, liegt sicherlich im Interesse an der deutschen Kultur“.

Dann widme ich mich zum bereits zweiten Mal in nicht einmal einer Woche in meinem Zimmer dem Staubsaugen. Creepy.
Als ich fertig damit bin und gerade eine leere Milchpackung in die Recyclingtonne bringe, kommt Stuart mit (s)einem der Hunde herein (den anderen hat Jill stets mit) und setzt sich wieder vor den Fernseher.

Hund

Während meine Hände wieder kälter werden, gehe ich wieder in mein Zimmer und beginne zum ersten Mal, meine Zeit richtig zu verschwenden. Ich spiele Tomb Raider – nicht, weil es mir besonders viel Spaß machen würde, sondern weil ich nichts anderes zu tun weiß. Und weil es mir nicht besonders viel Spaß macht, höre ich nach zehn Minuten wieder damit auf.
Ich setze mich zu Stuart vor den Fernseher, der Film, den er guckt, ist so eine Art Horrorfilm. Zwei Frauen fahren eine Leiche durch die Gegend. Stuart macht sich etwas zu essen.
Als er aufgegessen hat und heißes Wasser in das Spülbecken einlässt, um sich dann wieder dem Fernseher zu widmen, mache auch ich mir etwas zu essen. Vier Toasts, zwei mit Butter, eines mit dünnem Schinken, eines mit Käse. Dazu ein Glas Honigmilch und eines mit „Sipahh“, Geschmacksrichtung Kakao, für mich hier gelassen von Jills Schwester.

Und jetzt habe ich einen Geistesblitz: Auf meiner externen Festplatte tummeln sich noch einige Mitschnitte aus dem deutschen Fernsehen, darunter Sonnenallee, Dirty Dancing, Nur ein kleines bisschen schwanger und 30 über Nacht. Ich entscheide mich für Sonnenallee und genieße eineinhalb Stunden deutsches Fernsehvergnügen so ganz für mich allein. In Gesellschaft wäre es sicherlich vergnüglicher, aber mit der ist es hier ja nicht sonderlich weit her.

Danach mache ich mir so meine Gedanken und während ich das tue, staubsauge ich die Küche, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, das andere Gästezimmer, den Raum neben der Küche, den Flur und das Büro. Und nachdem ich vor einigen Jahren mal in einem spektakulären Selbstexperiment den durchschnittlichen Staubniederschlag pro Jahr festgestellt habe, kann ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass dort vor dem Schreibtisch seit ungefähr eineinhalb bis zwei Jahren nicht mehr gesaugt worden sein muss.
Jill und Stuart sind noch immer draußen, aber ich glaube, ich habe nun erst einmal genug getan. Das Geschirr hat auch schon wieder in den Schrank zurückgefunden und Holz ist auch noch da. Ich genieße einige Stücke deutsche Musik. Es wird später und später, morgen wird mein erster Tag in der Schule sein.

Als Jill später dann hereinkommt, bittet sie mich, noch mehr Holz zu holen. Ich bin etwas verwundert, der Wagen ist fast voll. Aber nun gut, bitte. Und ich solle noch einmal zu den Hühnern gucken, aber die sind mit schon fast deutscher Ordnungsliebe weggesperrt.
Ich vergleiche mich mit anderen Austauschschülern, deren Gasteltern im Büro arbeiten. Die würden sie nicht mitnehmen zur Arbeit. Von mir hingegen wird ganz selbstverständlich erwartet, dass ich auf dem Hof mithelfe. Und zusätzlich natürlich noch im Haus. Das ist schon kurios und – irgendwie auch ungerecht.
Wobei, die letzten zwei Tage bin ich ein wenig dabei, auszutesten, ob ich mithelfen muss. Ich schätze nur, sie werden es für eine gewisse Zeit tolerieren und dann meckern. Mal sehen, wie das wird, wenn morgen die Schule beginnt.

Zum Abendessen gibt es Bohnen mit Toast. Stuart fragt mich, wie viele Scheiben Toast ich haben möchte. Eine oder zwei, antworte ich. Eine oder zwei, fährt er mich an, ich solle mich entscheiden. Das gefälligst lässt er weg, aber es hätte gepasst. Hilfe! Ich entscheide mich für eine.

Das Essen soll das – wie Stuart sagt eines der – Lieblingsessen von der Austauschschülerin aus Bremen gewesen sein und ich denke, es könnte auch meines werden. Aber ich habe nicht sehr viel Hunger.

Danach wieder das übliche Big Brother-Gucken und darauf eine Polizeiserie. Interessant, dass man in Australien anscheinend der Meinung ist, dass das Laufen über ein Footballspielfeld (bekleidet wohlgemerkt) genau so schwer wiegt wie der Besitz von Drogen auf der Toilette des Stadions: Beide Täter werden zu fünfhundert Dollar Strafe verurteilt.

Dass ich früh zu Bett gehe, muss ich nicht erwähnen, oder? Und das, obwohl heute Dr. House kommt und ich die Folge noch nicht kenne.

Foods, Business Management, Information Technologies, …

Dienstag, den 17. Juli 2007

Heute weiß ich, was ich noch mehr tun kann, als um acht Uhr am Frühstückstisch zu erscheinen: Noch vor halb acht binnen einer Minute aus dem Bett springen und mich anzuziehen, um für Stuart draußen den Kopf einer Kuh hochzuhalten. Vielleicht lasse ich das zur Abwechslung einfach mal so stehen.

Heute morgen, als ich um halb sechs aufgewacht bin, ist mir zum wiederholten Male aufgefallen, dass ich hier in Australien mich morgens an meine Träume erinnere. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das wirklich möchte. Ich habe mich daran gewöhnt, es nicht zu tun und bin eigentlich ganz gut damit klargekommen.

Ich glaube, so langsam wird mir auch klar, warum die beiden auf der Gastfamilien-Bewerbung bei „What household duties would you expect of your exchange student?“ nur „Tide own room. Feed small animals & chooks. Tide up after yourself.“ angegeben haben. Zusätzlich noch „Get wood. Vacuum the floor. Feed big animals. Drag calves. Get the dishes back to the cupboard. Watch the fire.“ hätte einfach nicht in das Feld gepasst.

Mit ein paar Minuten Verspätung holt mich Kim um zwanzig vor zehn von der Farm ab, um mit Samira und mir zur Schule zu fahren, damit wir dort unsere Fächer wählen können.
Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass auch hier in Australien gewisse Wörter in Liedern mit Pieptönen versehen werden, ganz so, wie man es aus Amerika kennt. Schon eine interessante Sache, Greenday mit American Idiot so zu hören. Ich glaube, das ist das erste Mal, das mit bewusst geworden ist, wie oft ein gewisses Wort in dem Lied enthalten ist.
Ebenso interessant ist die Tatsache, dass es hier in Australien anscheinend an der Tagesordnung ist, kaputte Frontscheiben zu haben. Car-Glas hätte hier mit deren Spezial-Kitt wohl nichts zu holen, von den vier australischen Autos, die ich bis jetzt kenne, hatten zwei einen Sprung in der Frontscheibe. Keinen kleinen, sondern zehn Zentimeter oder mehr.
Und dann passiert etwas, was in meiner Familie ein bisschen kurz kommt: Kim fragt Samira danach, wie sie sich fühlt. Es ist nicht so, dass ich es übertrieben stark vermissen würde. Nur wenn es total fehlt, merkt man es schon. „How are you doin‘?“ ist eben nicht das selbe wie ein „Wie geht es dir?“.

Die Fächerwahl selbst gestaltete sich relativ relaxed, ich habe meine sechs Fächer einfach finden können: Information Technologies, Foods (wird aber eventuell durch Spanisch ersetzt), English, Mathmatics, Business Management, Physics. Was ich mit meiner geisteswissenschaftlichen Verpflichtung mache, ist mir noch nicht so ganz klar. Ich werde gleich einmal in der Schule in Deutschland anrufen und das abklären.
Es gibt einige interessante Unterschiede zu den deutschen Schulen, beispielsweise sind Handys generell verboten. Es sei allerdings an der Tagesordnung, dass trotzdem viele Schüler welche mitbrächten. Fühlt sich ein wenig an, als sei man in Bayern. Ipods oder andere MP3-Player hingegen seien erlaubt und, solange der Lehrer nichts dagegen habe und man sich nicht im Frontalunterricht befinde, ausdrücklich geduldet.
Außerdem bekommt jeder von uns den sogenannten student planners – eine Art Kalender, von der Schule eigens für ihre Schüler gedruckt, der die Schulregeln und einen ganzen Haufen anderen Krams enthält.

Die Schule verfügt über einen Haufen von Flügeln für die verschiedenen Fachgebiete, so dass wir heute mehrfach durch den Regen laufen müssen, um alle zu sehen. Außer Samira und mir ist noch eine italienische Austauschschülerin dabei. Die verschiedenen Flügel sind mit Buchstaben bezeichnet, so beispielsweise A für arts, S für science oder T für technologic, darüberhinaus aber auch noch C, G, M für Flügel oder einzelne Räume – und bestimmt noch einige weitere. In nahezu allen Flügeln befinden sich Computerarbeitsplätze und jeder Schüler bekommt seinen eigenen Login.
Die Schließfächer für die Schüler befinden sich im Außenbereich und dort verbleibt auch der Schulranzen, man nimmt immer nur das mit rein, was man für die nächsten zwei Stunden benötigt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für das eigene Schließfach sollte sich jeder Schüler ein Schloss besorgen.

Nach der kleinen Schultour und dem wahrscheinlich letzten freundlichen chat mit der Schulleiterin (wer weiß schon, zu welchen Anlässen man einander wiedersieht) begeben wir uns wieder zum Eingang, wo Kim auf uns wartet.
Wir fahren noch beim örtlichen Golf- und Bowlingclub vorbei und essen zu Mittag. Es regnet und ich gönne mir ein Schnitzel mit Salat. Zum ersten Mal in Australien schmeckt mir das Essen wieder wirklich. Es ist gutes Essen, ein wenig deutsch – und vor allem nehme ich mein Mahl in guter Gesellschaft ein.
Während des Essens erfahre ich, dass meine Nachbarn so um die sieben Computer haben, drei oder vier Fernseher – davon einen als Beamer-Ausführung -, eine X-Box, natürlich dementsprechend Internet und dass sie mit Samira schon über ICQ gechattet haben, bevor sie kam. Dann sprechen wir über meine Gastfamilie. Samiras Gastmutter merkt an, dass Stuart in einer schlechten Stimmung gewesen sein muss, als sie mich abgeholt hat. Ich denke nur: „Schlechte Stimmung? Er war wie immer“. Die beiden beschreiben Samira meine Gasteltern in gewohnter british understatement Marnier der Australier mit „different“. Sie hätten selbst keine Kinder, würden keinen Urlaub machen und überhaupt nicht herumkommen. Es ist wirklich hilfreich, eine Einschätzung von außen zu haben und ich muss doch sagen, sie bestärkt mich ein wenig in meinen Ansichten.
Als wir im Begriff sind zu gehen, frage ich Kim „What do you get for that food?“ und sie guckt mich nur verständnislos an. Ich frage erneut, sie braucht einen Moment, dann antwortet sie: „It’s ok“.
Im Auto, während Samira und ich auf Kim warten, die für zwei Minuten in ein Haus gegangen ist, wechseln wir einige deutsche Worte. Ich erfahre, dass sie sehr zufrieden mit ihrer Gastfamilie ist. Sie kann ihre Gastgeschwister mit einem der motorbikes der Familie von der Bushaltestelle abholen und vor allem bekommt sie jeden Morgen und Abend einen Kuss und eine Umarmung. Ich glaube, nein, ich weiß, dass das das erste Mal ist, dass ich seit der Begrüßung durch Jill am Flughafen dieses Wort schreibe und ich glaube, das ist schon ein wenig bezeichnend.
Kim fragt, ob ich noch bei Jill vorbeischauen müsse und ich verneine. Dabei fällt mir auf, dass wir Deutschen dazu tendieren, „yet?“ zu fragen anstelle von „now?“ und zwar, wie Samira Kim ganz einleuchtend erklärt, weil wir das deutsche Wort „jetzt“ haben. Mir fällt ein, dass ihr zuvor das gleiche mit dem Wort „smell“ anstelle „taste“ für „schmecken“ passiert ist.

Zurück auf der Farm (ich war gerade dabei, ‚zu Hause‘ zu schreiben, als ich mich umentschieden habe), es regnet immer noch, bietet Kim mir an, ich könne gerne einmal herüberkommen, wenn ich von zwei kleinen Kindern gepiesackt werden wollen würde. Und ich glaube, sie hat mir angesehen, dass ich das nur zu gerne würde.

Der Regen hört bald auf, aber ich bleibe drinnen. Mir ist heute wirklich nicht nach Kälber füttern zumute. Als Jill nach Hause kommt, gibt sie mir die Toastverpackung, die seit Tagen in der Küche steht und mit Abfällen gefüllt wird, und bittet mich, damit die Hühner zu füttern.

Hühner

Und sie bittet mich, die Pferde auf den gegenüberliegenden Paddock umzustellen. Das kleinere, helle Pferd heißt übrigens „Chester“, das andere „Firework“.

Chester

Firework

Chester

Und wo ich schon einmal draußen bin, bringe ich auch gleich das Papier, das in der Eile heute morgen seinen Platz in einem meiner Gummistiefel gefunden hat, in die Tonne.

Die Nachfrage bei der Schule in Deutschland ergibt unterdessen, dass ich meine Verpflichtung, ein geisteswissenschaftliches Fach zu belegen, mit ein wenig gutem Willen der Schule hier leicht erfüllen kann: Ich werde einfach darum bitten, Business Management im Zeugnis als Economics and Politics oder so ähnlich eintragen zu lassen. Politik soll mein drittes Prüfungsfach werden und inhaltlich ist das wohl so ziemlich auf einem Level – ob ich jetzt die Lehre darüber, wie man einen kleinen Betrieb führt, Business Management oder Volkswirtschaftslehre nenne, erscheint mir nicht wirklich relevant.

Als die beiden mitdem Melken nachezu fertig sind, hole ich noch ein wenig Holz. Jill sagt, es würde eine kalte Nacht werden und ich habe es dann doch ganz gern ein wenig warm. Der Wetterbericht sagt, heute morgen sei in Sydney der kälteste Morgen seit 21 Jahren gewesen. Und ungefähr so habe ich mich in den letzten Tagen auch gefühlt.
Auf dem Weg, Holz zu holen, entdeckt Jill die Toastverpackung von vorhin; ich hatte sie am Zaun festgeklemmt, um die Hände für die Pferde freizuhaben. Blöde Sache, das.

Beim Studium des student planners stoße ich auf diverse Seiten mit Gesundheitsempfehlungen. Sogar eine der Schulregeln besagt, dass im Sommer in den Pausen und bei allen anderen Aktivitäten, die draußen stattfinden, eine Kopfbedeckung getragen werden muss – verpflichtend. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass Schule in Australien mehr erziehen soll als in Deutschland.

In der Fernsehwerbung fällt mir heute ein interessanter Spot auf: Eine Sterbeversicherung wird angepriesen, ein sehr authentisch wirkender Herr fortgeschrittenen Alters macht auf die Vorteile aufmerksam. Irritierend fand ich nur den Hinweis auf die 30-Tage-Geld-zurück-Garantie.

Abends wieder Big Brother und ich gehe ins Bett. In Gedanken an den Tag und an alle, die noch kommen mögen.

it’s getting warmer!

Montag, den 16. Juli 2007

Es wird tatsächlich wärmer. Das liegt allerdings weniger am Wetter als daran, dass seit heute morgen die kleine Standheizung, die sonst im Zimmer der Gäste stand, ihren Platz im Wohnzimmer gefunden hat und dort ihre wohlige Wärme verbreitet. So etwas wünsche ich mir auch für mein Zimmer…
Als ich durchs Bad bin und allein mein Frühstück genieße (ich habe mittlerweile ein Buttertoast und eines mit Erdnussbutter zu meinem bevorzugten Frühstück erklärt), verabschiedet sich Jill, um zur Arbeit zu gehen. Ich setze mich an meinen Computer und schreibe ein paar Zeilen, bis Stuart hineinkommt, um seinerseits zu frühstücken. Ich grüße ihn mit „mornin'“, aber es kommt nichts zurück. „Na super“, denke ich, „genau so etwas habe ich mir gewünscht!“

Hund

Ich lasse ihm seine Ruhe, bis meinem Laptop schließlich der Saft ausgeht (ich habe mich ohne Netzteil vor den Ofen gesetzt), und setze mich dann zu ihm. Er fragt, was ich die ganze Zeit getan hätte und anscheinend ist es für ihn nicht ausreichend, um 8 Uhr aufzustehen, nach einer Katzenwäsche zu Frühstücken und dann am Computer zu sitzen – für nicht einmal eine halbe Stunde. Nein, er fordert mich auf, meine Zeit doch nicht zu vergeuden, sondern etwas zu tun – wie Staubzusaugen oder Abzuwaschen.

Erwähnte ich schon seine Einstellung zu Computern? Jill formulierte es vor einigen Tagen sehr freundlich, als sie sinngemäß sagte, er habe nicht viel am Hut mit Computern und ich solle deshalb am besten gleich nach der Schule ins Internet gehen, wenn er draußen melken würde. Vor zwei Tagen saßen wir abends zusammen und argumentierte sinngemäß: „Was soll ich mit einem Computer, der sagt mir ja nicht, ob ich von einer Kuh getreten werde!“

Ein wenig später, Stuart erledigt gerade einige Telefongespräche, beginnt es plötzlich zu regnen. Auch wenn Stuart es vorausgesagt hat und die Gehwegplatten im Garten nass sind, so ist es doch recht überraschend für mich. Aber genau so schnell, wie der Regen gekommen ist, verschwindet er auch wieder: Nur zwei Minuten später nieselt es nur noch und einige weitere Minuten später hört er ganz auf.

Dann bekomme ich noch Post von SCCE, die bereits erwartete Versichertenkarte der medibank ist angekommen. Außerdem eine Assurance-Karte von ACE – und ich habe keine Ahnung, wer das nun schon wieder ist. Aber die anderen haben die selbe Karte und im Prinzip ist es nur eine Aufforderung, bei Problemen ein R-Call an sie zu richten, egal wo auf der Welt man gerade ist.
Beigelegt ist der Versicherungskarte noch eine kleine CD-ROM mit den Mitgliederrichtlinien und Datenschutzbestimmungen der medibank. Schon irgendwie wichtig zu wissen, dass künstliche Befruchtungen nicht von der Versicherung abgedeckt sind…
Als Stuart wieder draußen ist, rufe ich bei der Versicherung an und gebe meine neue Postadresse an. Die Callcenter-Agentin ist nur bedingt gut zu verstehen, aber auch das klappt irgendwie. Am Schluss bekomme ich noch eine refund number, scheinbar irgendeine Art von cashback für die Telefonkosten.

Es ist kurz vor elf Uhr, ich gehe Holz hacken (ach, wie ich diesen Satz schon wieder liebe!). Ich bin mir nicht sicher, ob Stuart gestern welches geholt hat, denn der Wagen ist schon fast leer. Und ich denke an einige andere Austauschschüler, die um diese Zeit mitunter noch schlafen. Ich glaube, so früh und so oft draußen zu sein ist mit ein Grund dafür, weshalb ich oftmals am Tag den Wunsch nach Schlaf habe. Nicht unbedingt Schlaf, um wacher zu werden – dafür würde ein Nickerchen reichen -, sondern Schlaf, um meine Zeit für mich zu haben, um nichts tun. Ich habe das Gefühl, ständig auf der Hut sein zu müssen. Außerdem ziehen sich die Tage extrem in die Länge, wenn man um sechs Uhr aufwacht und um acht Uhr aufsteht.

Katze

Hund Rusty

Gerade als ich, wieder im Haus, mich mit der Kälte ein wenig abgefunden habe, entdecke ich eine weitere Heizung. Erstaunlich, wie viele die beiden davon besitzen und wie wenig sie einsetzen. Ich glaube, den australischen Winter zu ertragen, ist auch einfacher, wenn man sanft in ihn hineingleitet, anstatt ihn von einem Tag auf den anderen zu erleben. In der letzten Nacht waren wohl so um die vier Grad minus.

Heute gönne ich mir wieder meine Tagesration von einem Stück Schokolade. Es ist das letzte Stück. 70 Prozent Kakaoanteil übrigens. Und ich hoffe wirklich, dass ich schon vor dem nächsten Wochenende Internet bekomme. Vielleicht kann ich heute Nachmittag noch einmal hineinschauen, Jills Mutter wird mich voraussichtlich nach Numurkah fahren, um mit mir in der Schule die Fächer zu wählen. Wenn ich Glück habe und wir danach noch zu ihr fahren und der Computer an … und so weiter. Vielleicht.

Oder auch nicht. Wie mir Stuart vorm Mittagessen mitteilt, wird das heute nichts. Der Lehrer hätte keine Zeit oder irgendwie so etwas. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden mich morgen die Nachbarn mitnehmen, wenn sie ihre Austauschschülerin zur Schule fahren, damit sie ihre Fächer wählt. Es sind die selben Nachbarn wie diejenigen, von denen Jill mir bereits geschrieben hatte. Die Austauschschülerin ist aus Deutschland und soweit ich das bislang mitbekommen habe, mit EF hier. Sie wird auch hier auf der Farm reiten, weil ihre Gastfamilie keine Pferde hat. Dafür aber eine Computerfirma und Breitbandinternetzugang. Vielleicht kann ich da ja eine Frau gegen drei Kamele … oder so ähnlich.

Mittagessen ist ohnehin so eine Sache. Stuart meinte vorhin vor dem Mittagessen, als er von draußen hereinkam, zu mir: „You’ve been asleep! The fire is nearly out!“ – Mir war gar nicht bewusst, dass von mir erwartet würde, danach zu sehen, nachdem ich einmal Jill den Kamin habe öffnen sehen, Stuart dazu kam und sie nur meinte „oh, it’s not my business“. Aber anscheinend ist es meines.
Mindestens ebenso interessant finde ich auch, dass Stuart gerne seinen Teller auf dem Tisch stehen lässt. Oder die Erdnussbutter. Vorhin war ich mir nahezu sicher, dass sie da vorher nicht stand und als er wieder weg war, war sie dort.

Am Nachmittag sieht die Welt schon wieder ein wenig anders aus. Jetzt, da mein Zimmer und die Küche von mir gesaugt wurden, habe ich so langsam das Gefühl, mein Tagespensum an Arbeit erreicht zu haben und nicht in Rechtfertigungsnöte zu kommen – zumindest heute. Aber ich vermute, meine Mithilfe wird noch einmal erwartet, wenn in einer guten Stunde das Melken beginnt.

Während ich all diese Zeilen schreibe, höre ich Radio. Der Weltempfänger meines Großvaters versieht wundervolle Dienste hier, inklusive Uhr und Wecker. Zwar kann ich trotz angesteckter Langdrahtantenne nur einen Kurzwellensender empfangen (dafür aber unzählige Störungen, wo eigentlich monotones Rauschen sein sollte), aber der UKW-Bereich ist mit zwei Sendern schon etwas voller. Na ja, somewhere in the middle of nowhere eben. Dafür spielen sie die Red Hot Chili Peppers, Lifehouse, Black Eyed Peas und einige andere Interpreten, die mir ein wenig ein Gefühl von Deutschland geben.

Stuart ist heute ein wenig spät dran, er beginnt erst gegen vier Uhr mit dem Melken. Ich füttere die Kälberherde, drei einzelne Kälber und die Hühner. Dann werden sieben Kälber abgeholt, allesamt werdende Bullen. Ich füttere noch eine der Kuhherden – Stuart warnt mich fast zwei Minuten lang davor, ihnen zu nahe zu kommen (Es könne ein klein wenig kitzeln. Ich muss unmittelbar wieder an das Buch ‚Frühstück mit Känguruhs‘ denken) -, dann soll ich ein Kalb in den Stall tragen. Ich hätte gerne ein Foto von mir gemacht hinterher, aber ich will meine Kamera gerne noch weiterhin nutzen – und zwar ohne eine zentimeterdicke Schicht eingetrockneten Matsches. Dann gibts noch Milch für das Kalb, das sich auch erst langsam dazu aufrafft, auf eigenen Beinen zu stehen. Es möchte aber nicht trinken, so dass Jill ihm die Milch zwangsweise einflößt.

Zurück im Haus, gibt es ein wenig Abendessen. Immer noch Reste vom Wochenende (Ich habe mir vorher nie Gedanken darüber gemacht, wie lange etwas im Kühlschrank haltbar ist…), ich wähle diesmal Hühnchen. Pur. Die zu 97% fettfreie Mayonaise schmeckte mir nur in den ersten Tagen. Und da war ohnehin noch alles neu. Dann gibt es ein wenig Aufruhr, weil sich vier Gläser in der Küche befinden und wir nur zu dritt sind. Schnell ist der Bösewicht festgestellt, ich bin es. Ich habe mir doch glatt, nachdem ich am Morgen Milch getrunken hatte, für den Fruchtsaft ein neues Glas anstelle dessen mit eingetrockneten Milchrändern genommen. Unverzeihlich, Schande über mein Haupt!
Die Gastmutter meiner Nachbar-Gastschülerin, die mich morgen mit in die Schule nehmen wird, hat Jill auf der Arbeit angerufen und das ist auch der Grund, weshalb sie jetzt weiß, dass sie mich um halb elf einsammeln wird. Ich bin gespannt.
Als wir später noch ein wenig zusammensitzen, äußert sich Stuart ungläubig darüber, dass ich rechtzeitig aufstehen werde. Als ich meine, dass ich gestern um zwanzig vor Sieben fertig war, meint er sinngemäß: „Na toll, einmal im Jahr! Und wie lange sollen wir auf das nächste Mal warten?“ – Mir ist nicht so ganz klar, was ich noch mehr machen soll, als jeden Tag um acht Uhr in der Küche zu erscheinen. Wohlgemerkt auch am Wochenende und in den Ferien.

Pünktlich um 19 Uhr geht im Hause Cameron der Fernseher an. Faszinierende Sache, die beiden gucken Big Brother. Blöderweise haben wir nur einen Fernseher und das kommt so nahezu jeden Abend. Also gehe ich früh ins Bett – wie jeden Abend.

arrival orientation

Sonntag, den 15. Juli 2007

5.45 Uhr. Der Wecker klingelt, obwohl ich schon – wie üblich – aufgewacht bin, als Stuart und Jill zum Milken gegangen sind. Und das ist schon eine Weile her. Heute ist die arrival orientation in Melbourne. Sie beginnt zwar erst um 10 Uhr, aber weder Jill noch Stuart können mich dorthin bringen, weil sie auf der Farm zu tun haben. Dafür nehmen mich die Gasteltern einer anderen Austauschschülerin, die auch mit mir geflogen ist, mit.
Um zwanzig vor sieben ist Abfahrt nach Shepparton, Jill kommt gegen viertel vor hektisch zum Haus gelaufen und muss dann aber nochmal kurz hinein und dann soll Miss, eine der Hündinnen, noch ihr Geschäft verrichten. Ich finde es wirklich erstaunlich, dass sie das auf den Befehl „go to toilet“ auch anstandslos tut. Sofort.
Kurz nach sieben Uhr kommen wir in Shepparton an und weil noch nicht alle fertig sind, werde ich noch hinein gebeten. Ich sehe Lara wieder, neben der ich schon in Frankfurt im Vorbereitungsseminar eine Zeit lang saß. Und ich sehe Hanna(h?) und Tim, die zwei Kinder der Familie. Und zwei äußerst zuvorkommende Eltern. Wieder zwei Australier ohne diesen mürrischen Blick, den Stuart meist aufsetzt. Hat doch auch was irgendwie, so ein paar freundliche Gesichtszüge.
Und ich muss wieder an den Spruch „it’s not better, it’s not worse, it’s just different“ denken. Lara hat ein warmes – aufgeräumtes – Haus, einen Pool, zwei Pferde direkt nebenan und was weiß ich, was noch alles. That’s life.
Die Fahrt nach Melbourne nutzen Lara und ich, um ein paar deutsche Worte zu wechseln, während alle anderen schweigend die wechselnd gute Aussicht genießen. Ich bemerke erstaunt, dass der drive in in Australien nicht drive in, sondern drive through heißt – was ja irgendwie auch wesentlich sinnvoller ist.

BurgerKing Drive-In auf Australisch

Vielleicht traut man uns Deutschen nicht zu, zu wissen, was das Wort „through“ bedeutet und hat es deshalb abgeändert? Und ich sehe wieder einmal einen ALDI. Wenn ich Zeit habe – und auch irgendwen, der ein Auto hat und der auch Zeit hat – muss ich unbedingt einmal dort hineinschauen und gucken, was dort so angeboten wird.Als wir schließlich ankommen, sind wir just on time, als wir das Universitätsgelände betreten. Unser Weg führt uns, ganz ohne jeglichen Wegweiser durch ein Eingangsgebäude und einen Innenhof in ein alterwürdiges Gebäude mit viel Holz
Die arrival orientation selbst gestaltet sich in gewohnter Seminarmarnier – sei es nun Eltern-, Vorbereitungsseminar oder sonst ein anderes. Nach einer Begrüßung geht es in die Gruppenarbeit. Diesmal sollen wir eine Karte von Australien zeichnen. Mein Sitznachbar, auch ein Deutscher, zeichnet ganz exzellent die Küste und hilft mir dann, die Staaten und Territorien einzuzeichnen. Auf der anderen Seite von mir sitzt eine Schwedin, die sich an einigen Hauptstädten versucht. Einige Austauschschüler weiter und einige Runden später ist die Karte noch immer nicht fertig, aber wir werden angehalten, zum nächsten Teil der Veranstaltung zu kommen.

arrival orientation

Außer den verschiedenen Gruppenarbeiten (mit gemischten Nationen und auch sortiert) gibt es noch Lunch: Sandwiches und eine Art Jugendherbergssaft mit einem ganzen Haufen Eis. Man stelle sich das vor: Ich sitze dort im Pullover ungefähr sechs Meter von der Tür entfernt und wünsche mir nicht sehnlicher, als dass man sie schließt.
Was wir außerdem noch taten, war genau wie das, was wir in Frankfurt vor der Abreise taten – wir schrieben einen Brief an uns selbst und taten ihn in eine „Zeitkapsel“. Ich zog es vor, das Programm der orientation in die Kapsel zu tun, vielleicht kann ich ja bei dem Treffen vor der Abreise etwas damit anfangen.
Außerdem gibt es noch einen Vortrag über allerlei australische Gegebenheiten von einer Dame, die uns mit einem amerikanischen Akzent Abwechslung beim Zuhören verschafft, dafür aber derart laut in ihr Mikrofon spricht, dass unsere Trommelfälle diese Abwechslung nicht wirklich genießen können. Sie stellt das Schulsystem als ein Schulsystem vor, das ausschließlich aus Gesamtschulen besteht. Die Kurse seien üblicherweise in der Größe zwischen 24 und 26 Schülern, mehr als 26 sei zumeist per Gesetz verboten. Koorperatives, individuelles Lernen sei meist anstelle von Frontalunterricht an der Tagesordnung. Klingt wie die Qualitätsmerkmale für gute Schule in Niedersachsen.
Einige Tipps gibt man uns mit auf den Weg, beispielsweise den Antrag für eine spezielle Karte, mit der Schüler und Studenten Vergünstigungen in Bus, Bahn und an anderen Orten erfahren können. Macht allerdings natürlich nur Sinn, wenn ein Bus oder eine Bahn in der Nähe abfährt, beziehungsweise überhaupt irgendetwas in der Nähe ist. Sollte man dann doch mal die Möglichkeit haben, einen Bus zu benutzen und würde seine Füße auf den gegenüberliegenden Sitz stellen, so koste einen der Spaß gleich einmal 100 australische Dollar. Wir sollten also nach Möglichkeit davon absehen.
Unsere Versichertenkarte der medibank sollten wir bereits in den letzten Tagen erhalten haben, was bei einigen auch der Fall war. Ich vermute, zu uns braucht die Post länger. Dann bekamen wir noch ein Codewort für absolute Notfälle für Anrufe bei der SCCE-Hotline. Das students handbook zählt auch einige Szenarien auf, für die es gedacht ist: Häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe. Der vortragende managing director von SCCE nannte außerdem alles, in das die Polizei verwickelt sei oder im Begriff sei, verwickelt zu sein, einen Grund, das Codewort zu nennen. Bei der Drucklegung des students handbook schien allerdings noch ein anderes Codewort aktuell gewesen zu sein. Und alle, die es noch nicht gelesen haben, sondern es vielleicht später tun werden, werden wohl ein wenig verwundert sein. Das mag in den allermeisten Fällen gutgehen, aber in den wenigen, in denen es das nicht tut, können die Auswirkungen katastrophal sein.
Und dann habe man noch eine Ausfertigung der SCCE-Regeln für uns. Eine ganz tolle Sache, diese Regeln. Nur, dass wir sie schon mindestens zwei Mal hier in Australien bekommen haben und die STEP IN-Regeln sehr ähnlich sind. Ein Österreicher an meinem Tisch hatte sie sogar sage und schreibe acht Mal erhalten.

Neben dem Seminarprogramm und den Gruppenfotos ist noch gut Zeit, sich mit den anderen Austauschschülern zu unterhalten. Und ich muss sagen, das ist eigentlich der wesentlich interessantere Teil der gesamten Veranstaltung. Und es stellt sich dabei heraus, dass alles „just different“ war. Von 10-Monats-Austauschschülern, die ihre Zeit in Australien auf fünf Monate reduzierten und welchen, die direkt im Haushalt des managing directors von SCCE untergebracht waren („nur für ein paar Wochen“) bis hin zu welchen, die jeden Tag bis elf Uhr schliefen, welchen, die vier Gastgeschwister haben oder welchen, die die vergangenen drei Tage nahezu ausschließlich mit Shoppen mit ihren Gastmüttern verbracht haben, ist alles vertreten. Wenn ich erzähle, dass ich auf einer Farm bin, sind die meisten Austauschschüler zunächst begeistert gewesen („Oh, eine Farm! Wie cool!“), wenn ich dann aber berichte, wie ich morgens, wenn die anderen noch schlafen, Holz hacke und dass wir keine Heizung haben, sondern nur einen Kamin, legt sich die Begeisterung schnell, was ich auch nicht sehr verwunderlich finde offen gestanden.

Nach der arrival orientation treffen wir noch Freunde der Gastfamilie von Lara in einem Cafe in Melbourne. Und mir geht wieder einmal auf, dass das Treffen von verschiedenen Australiern und das Sehen verschieder Plätze von Australien etwas ist, das mir hier fehlt. Ebenso werde ich nicht mit meiner Gastfamilie in den Urlaub fahren, so wie es mindestens eine handvoll Austauschschüler, mit denen ich gesprochen habe, tun.
Während des Gespräches stellt sich heraus, dass die Australier anscheinend keine Salzstangen kennen. Ich suchte das Wort im Wörterbuch und erklärte es ihnen, aber Laras Gastmutter dachte an eine Brezel. Ich trinke eine heiße Schokolade. Eine ganz normale, während es in dem Cafe ungefähr zehn verschiedene CocoDrinks, also Kakaokreationen gibt. Als wir das Cafe wieder verließen, sah ich unter einem unauffällig im Vordach verborgenen, aber deutlich spürbaren Wärmestrahler jemanden mit einer Cola sitzen. Draußen. Mit Eis. Und ich war wieder einmal erstaunt, was für Sachen es doch gibt.

Auf der Fahrt zurück nach Shepparton holte der Schlaf mich ein, noch bevor wir auf dem Freeway waren. Wir machten an der selben Raststätte Halt wie am Mittwoch, als Jill mich vom Flughafen abholte. Obwohl ich im Auto sitzen bleibe, weil mir kalt ist und ich gerne schlafen möchte, bekomme ich etwas zu Essen: Laras Gastmutter bringt einen Becher (Becher, nicht Tüte!) Pommes Frites mit, den wir Kinder uns teilen. Danach schlafe ich irgendwann wieder ein, bis Lara mich antickt, als wir gerade in die Einfahrt einbiegen.
Wir gehen ins Haus und es ist ein wenig kalt. Laras Gastvater macht die Heizung (anscheinend eine in der Wand eingelassene Gasheizung) an und ihre Gastgeschwister versuchen sich gegenseitig den Platz davor streitig zu machen. Dann geht plötzlich das Licht aus. Zuerst denken wir an einen Stromausfall, aber dann fällt uns auf, dass die Uhr am Ofen und an der Mikrowelle noch an sind. Tim und sein Vater gehen gucken und wenig später funktioniert wieder alles, wie es soll.

Um es noch ein wenig wärmer zu kriegen, machen wir den Ofen an. Interessantes Wort übrigens, das „wir“. Habe ich das eigentlich schon mal im Bezug auf Jill und Stuart benutzt? Es ist nicht so, dass ich daran beteiligt gewesen wäre, es ist nur das Wir-Gefühl. Just something to think about.
Interessant ist auch, dass das Holz gemeinsam geholt wird – von Laras Gastschwester und ihrem Vater. Als das Feuer lodert, kommt Tim herein und bringt uns alle zum Lachen, als er unvermittelt fragt: „Does anyone just wanna play Poker?“. Er, Lara und ihr (Gast-)Vater beginnen eine Runde zu spielen und für meinen Geschmack viel zu früh steht plötzlich Stuart im Wohnzimmer. Ich hätte gerne noch ein wenig bei ihnen verweilt, aber bis zu dem Zeitpunkt, als Stuart es dann erwähnte, wusste ich nicht, dass auch ich morgen keine Schule haben würde.

Als ich später von dem Tag erzähle, meint Jill noch „and you don’t have anyone here“. Abends denke ich darüber nach. Es ist schon irgendwie ein komisches Gefühl. Nicht, dass ich Heimweh hätte. Es ist nur … einerseits die Kälte. Und dann auch noch die Kälte.
Erwähnte ich schon, dass Stuart, als ich die Pläne meines Amateurfunkfreundes, am Samstag einmal vorbeizusehen und sich vorzustellen, mitteilte, gleich Gedanken kundtat, ob er nicht vielleicht ein Terrorist sei? Eine sehr tolle Sache, solche Kommentare, wenn man gerade dabei ist, herauszufinden, was Normalität für seine Gastfamilie bedeutet.


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