ein Tag voller Erlebnisse *hust* uups, Blitzhusten
Donnerstag, den 19. Juli 2007Ich bin früh wach wie üblich, aber heute höre ich den sechs Uhr elf Ton irgendwie nicht.
Heute wird mein erster Tag in der Schule sein, gestern habe ich schon meine Uniform herausgelegt und von allen Preisschildern befreit und einen Block, meine Federtasche und den student planner eingepackt. Jetzt fällt mir ein, dass ich auch noch einen Taschenrechner brauchen könnte. Das blöde ist nur, dass ich den Krams nicht einfach irgendwo lassen kann, ich habe noch kein Schloss für mein Schließfach (ich habe ja auch noch kein Schließfach). Und außer in Mathematik soll ich ihn auch nicht mit in den Raum bringen. Blöde Zwickmühle.
Ich denke noch ein wenig darüber nach und packe unterdessen Geld aus, das Kleingeld (immerhin fünf Dollar fünfzehn) muss für heute reichen, morgen sehen wir dann weiter. Was ich mit meinem PDA mache, ist mir auch noch nicht so ganz klar, aber ich glaube, ich werde ihn mitnehmen. Kommt drauf an, ob er in die Tasche passt.
7.26 Uhr. Wenn es in Deutschland so spät wäre, würde ich gerade in den Bus einsteigen. Hier bleibt mir noch fast eine Stunde Zeit. Ich denke daran, dass MP3-Player in einigen Unterrichtsstunden erlaubt sind und entscheide mich gegen meinen PDA und für meinen MP3-Player. Da Jill noch immer im Badezimmer ist, verharre ich mit meinem Laptop im Bett.
Ein paar Minuten später schwinge ich mich aus dem Bett, ziehe meine Schuluniform an und suche die letzten Sachen zusammen. Zwischen zehn vor acht und fünf vor acht klopft Jill an und fragt, ob ich nichts frühstücken wollen würde, es sei schließlich schon kurz vor acht. Ich verneine, ich habe keinen Hunger. Ein paar Minuten im Bad, dann mache ich mir zwei Toasts mit Erdnussbutter. Ich frage Stuart, wie ich die beiden am besten zur Schule kriegen würde und er gibt mir eine kleine Plastiktüte. Um viertel nach acht verabschiede ich mich von den beiden – in der Gewissheit, dass die Uhr einige Minuten vorgeht und bepackt mit Müll für die Recycling-Tonne. Heute stünde die Tonne vorne an der Straße, sagt man mir und so gehe ich nach vorne. Während ich das tue – und mir das leere Erdnussbutterbehältnis herunterfällt, sehe ich einen Schulbus vorne an der Straße vorbeifahren. Ich entziffere die Aufschrift und stelle fest, dass er zu einer Grundschule fährt. Vorne angekommen werfe ich den Müll in die Tonne und gerade, als ich das tue, sehe ich einen anderen Bus auf mich zurauschen. Ich reiße den Arm hoch, aber der Bus fährt weiter. Scheiße, denke ich. Jill hat gesagt, ich müsse ihr Auto waschen, wenn ich den Bus verpassen würde und sie mich zur Schule fahren müsste (Stuart ergänzte, dass ich es mit der Zahnbürste tun müsste.) und das steigert meine Laune nicht umbedingt. Ich bleibe noch draußen stehen und überlege mir, wie ich es den beiden erklären soll. Mir fällt auf, dass ich bedauerlicherweise nicht einmal eine Uhr trage oder dabei habe, um zu überprüfen, ob ich wirklich zu spät bin.
Dann aber erscheint am Horizont (na ja, fast am Horizont) die Rettung, ein weiterer Schulbus biegt auf die Straße ein, an der ich stehe. Und dieser hält. Ein freundlicher Busfahrer guckt mir entgegen, meint, ich solle mir nur einfach hinten einen Sitz suchen und fährt dann weiter.
Ich setze mich in eine der leeren Reihen in der Mitte des Busses. Hinter mir sitzen die Schüler der Numurkah Secondary School, vor mir die der Primary School. Zusätzlich zu dem ohnehin schon recht lauten Grundgeräuschpegel ertönt aus den Lautsprechern im Bus Radiomusik. Gute Musik, keine Frage, der selbe wie den, den ich an meinem Radio eingestellt habe. Nur halt etwas ungewohnt.
Zwei Ecken weiter wundere ich mich, warum Samira nicht an der Straße steht. Doch der Bus fährt einen komischen Weg – oder vielmehr Umweg -, so dass ich mir vorstellen könnte, dass er später an der gleichen Stelle noch einmal vorbeikommt.
Wir fahren noch eine ganze Zeit umher, picken weitere Schüler auf und lassen andere aussteigen, bevor wir an meiner Schule ankommen. Ich gehe zielstrebig über den Schulhof und zum Sekreteriat, um dort meine Unterlagen abzugeben. Die Beratungslehrerin, die mit uns auch schon die Fächer ausgesucht hat, ist noch im allmorgendlichen staff briefing im Lehrerzimmer, also nehme ich noch für einige Minuten Platz.
Dann sehe ich plötzlich Samira von ihrem Gastvater zur Schule gebracht werden und zur gleichen Zeit ist auch das staff briefing zu Ende. Chiara (ich bin mir noch immer nicht ganz über die Schreibweise im Klaren), die italienische Austauschschülerin, und Samira bekommen ihre buddies – meiner ist nicht da und taucht auch nicht auf, als er ausgerufen wird. Also werde ich von der Beratungslehrerin zur homegroup gebracht, einer Art Zusammenkunft für organisatorische Zwecke jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn. Dort sitzt auch mein buddy – und hat zwei „Stöpsel“ seines Ipods im Ohr, was erklärt, warum er nichts gehört hat.
Da die homegroup jahrgangsübergreifend besteht und es an diesem Morgen augenscheinlich nichts von wirklicher Bedeutung zu besprechen gibt, ist eher eine Art freien Plauderns in gedämpfter Lautstärke an der Tagesordnung.
Für die ersten zwei periods steht Mathe auf dem Stundenplan (der übrigens sehr interessant aussieht so ohne Mittwoch). Ich bin in den höchsten von drei verschiedenen Mathekursen eingestuft, der gleich im Raum nebenan stattfindet. Das Thema ist interessant: Trigometrische Funktionen, also genau das, was wir in den letzten Monaten rauf und runter gemacht haben. Die Stunde verbringe ich damit, einige Sachen erklärt zu bekommen, die ich ohnehin schon weiß und damit, einige fehlende Seiten in Dreiecken auszurechnen.
Während all dessen läuft immer wieder eine „Elefantengruppe“ vorbei, auf der anderen Seite der Wand ist die Turnhalle und dort scheint eifrig gestampft zu werden, der Lärm ist stellenweise schon fast ohrenbetäubend.
Danach stehen zwei Stunden Englisch an, wobei Englisch hier eher so etwas ist wie es Deutsch in Deutschland ist: Ein Fach, in dem vor allem die Themenarbeit im Vordergrund steht. Und hier ist es für die nächste Zeit ein Thema, das sich mit verschiedenen Zukunftsvisionen befasst. Zunächst sprechen wir über George Orwells 1984 (oder vielmehr die Lehrerin spricht, außer mir kennt das Buch nämlich keiner, wobei ich zugegeben muss, dass ich es auch nicht gelesen habe), dann über einen Herren namens Aldous Huxley, der das Buch „Brave New World“ geschrieben habe und darin die von Ford eingeführte Massenfertigung am Fließband auf die Fortpflanzung des Menschen übertragen habe und schließlich – tadada – über Gattaca, einen Film aus der jüngeren Zeit, in dem es, grob gesagt, um Diskriminierung aufgrund von Erbanlagen geht und daraus resultierende Situationen geht. Und genau diesen Film habe ich schon drei Mal gesehen, das letzte Mal im Religionsunterricht, was ein Grund dafür ist, weshalb ich ihn auch schulisch schon eingehend beleuchten konnte. Um so besser für meinen Start hier in Australien, dass ich den Stoff schon kenne – und interessant ist es allemal, einen Film in seiner Originalsprache zu sehen, wenn man sich nicht die ganze Zeit darauf konzentrieren muss, die Handlung zu verstehen.
Den Film sehen wir übrigens über den Beamer, der in jedem Raum an der Decke angebracht ist. Faszinierende Geschichte; Boxen gibt es übrigens auch entsprechend zwei neben der Projektionswand.
Nach vier Stunden mehr oder minder harter Arbeit folgt die große Mittagspause, eine Stunde lang. Von meinem Buddy war schon nach den ersten zwei Stunden nichts mehr zu sehen und so sitze ich, wie auch in der ersten Pause schon, mit der vorherigen Austauschschülerin auf dem Hof von Jill und Stuart und ihrem Freundeskreis zusammen. Mehrmals bemerke ich erstaunt, dass es nur Mädchen sind, aber mir dünkt, die sind einfach kommunikativer und auch integrativer (hoffentlich gibt es dieses Wort überhaupt in dieser Bedeutung).
Die letzten beiden Stunden bedeuten für mich ein wenig Entspannung, Informatik steht an und ich bekomme nicht nur meinen Login für das Schulnetz, sondern auch die Möglichkeit, nahezu die ganzen zwei Stunden im Internet zu surfen, während ich mich nebenbei noch ein wenig dem Pseudocode widme, der dafür sorgen soll, dass eine Tasse Kaffee fertig wird oder ein Roboter den Weg von einem Tisch zur Tür findet. Eine Woche ohne Internet bleibt nicht ohne Spuren, elf neue Kommentare in meinem Blog und sechshundert E-Mails, das meiste davon Spam.
Es gibt im Leben nur wenige Momente, die mir vollständig die Sprache rauben. Heute war einer davon. Ich komme um kurz nach vier Uhr nach Hause, ein wenig gestresst vom ersten Tag in der neuen Schule ohne Fünf-Minuten-Pausen. Ich gehe ins Haus, trinke eine Honigmilch und esse zwei Toasts, quasi ein verspätetes Mittagessen. Dann versuche ich, meinen Vater in Deutschland zu erreichen und vereinbare mit ihm ein Telefonat für morgen früh. Danach tausche ich meine Schuluniform (das Hemd ist übersät mit blauen Flusen, weil der Pulli noch nicht gewaschen wurde) gegen Farmkleidung und gehe nach draußen, um Holz zu holen, der Wagen ist nämlich fast leer. Ich sehe, dass Stuart anscheinend welches gehackt hat, einige frische Scheite liegen auf dem Rasen. Ich packe große und kleine in den Wagen, wie üblich, bringe ihn dann zur Eingangstür und gehe dann zu Stuart. Auf mein „Hi“ erfolgt nur ein „Did you miss the bus?“. Ich denke über den Weg zur Schule nach, dann über den von der Schule und verneine. Was ich denn dann die ganze Zeit gemacht hätte, fragt er, jetzt sei er längst fertig. Holz geholt, entgegne ich, es sei nämlich keines mehr im Wagen gewesen und das Feuer wäre auch nahezu aus. Ob ich überhaupt Holz hacken könne, fragt er, ich würde schließlich immer eine Mischung aus kleinen und großen Stücken bringen. Ich schaue verwirrt, schließlich hat Jill mich gerade gestern gebeten, größere Holzstücke zu holen und selbst da habe ich mich schon gewundert, weil Stuart, als er mir es erklärte, sagte, ich solle zwei oder drei große (von mir aus auch drei oder vier, den großen Unterschied macht das nicht) Stücke mit kleineren Mischen. Vielleicht definieren wir klein und groß auch einfach anders, wundern würde es mich nicht sonderlich. Er fragt erneut: „Can you split wood? Simple question: Yes or no?“ – ich würde ihm gerne erklären, dass ich nur die kleineren der größeren Stücke zerteilen kann, aber mir bleibt aufgrund der – leicht, aber nur leicht, ganz leicht suggestiv angehauchten – Fragestellung nichts anderes übrig, als zu antworten: „Then no.“
Darauf folgt der Teil, der mich sprachlos macht. „Fuck off“ ist dabei noch eines der freundlicheren Worte und ich glaube, ich kann froh sein, nicht alle Wörter zu verstehen. Stuart schickt mich ins Haus. Ich gehe, ungläubig den Kopf schüttelnd. Es ist für mich absolut indiskutabel, dass man bei solche einer vergleichsweise banalen Begebenheit einen Austauschschüler, der gerade einmal eine Woche bei einem und zudem durch seinen ersten Schultag zusätzlich belastet ist, nicht mit einer derartigen Vulgärsprache beschimpft. Drinnen rufe ich bei meiner local coordinatorin an. Sie ist nicht zu Hause, dafür aber jemand anders. Ich bitte, eine Nachricht zu hinterlassen, dass wir sprechen müssten und ich heute Abend oder in den nächsten Tagen nochmals versuchen würde, sie zu erreichen. Auf die Nachfrage, ob sie mich zurückrufen solle, wenn sie nach Hause käme, entgegne ich, dass ich nicht wüsste, ob ich dann (frei) sprechen könne. Als ich dann noch sage, dass ich bei der Familie Cameron bin, scheint sich meine Gesprächspartnerin nicht mehr zu wundern.
Ich unterdessen fühle mich immer mehr als farm hand. Und anscheinend wird von mir auch noch erwartet, dass ich qualifiziert bin. Wenn ich bei etwas nicht sofort schreie „Nein, ich kann das nicht!“, sondern es erst einmal versuche(n möchte), dann legt man mir das hinterher negativ aus.
Ich setze mich in mein Zimmer an den Laptop, und die Ereignisse des Tages festzuhalten. Dann kommt Jill nach Hause, klopft an (ich habe zwischenzeitlich die Tür geschlossen) und fragt mich, ob ich Stuart gefragt habe, ob ich etwas für ihn tun kann. Ich schildere ihr die Vorkommnisse – und ringe dabei ein wenig um Fassung. Sie scheint fast ein wenig vertraut mit solchen Situationen, sagt nur „I’m gonna talk to him soon“ und entschwindet.
Ich sitze weiter an meinem Laptop, dann klopft Jill wieder an und sagt, dass Essen fertig ist. Ich sage, dass ich nicht hungrig bin und als sie dann fragt, auch, dass ich im Moment nicht sicher bin, ob ich mit den beiden sprechen möchte. Sie sagt, dass wir schon darüber sprechen müssen und ich meine, wir sollten das dann nach dem Essen tun. Jill fragt, ob ich Charlotte als meine Koordinatorin mit einbeziehen wollen würde, ich teile ihr mit, dass ich sie bislang noch nicht erreichen konnte und nicht wisse, wann sie wiederkommt. Jill entschwindet wieder und ich höre Stuart ihr irgendetwas entgegen murmeln.
*klopf klopf* kurze Zeit später ist sie wieder da, Charlotte sei jetzt am Telefon. Ich seufze ein wenig (hatte ich doch gebeten, nicht zurückzurufen), aber das Problem löst sich relativ einfach, weil Jill mir Privatsphäre zugesteht, indem sie die Schiebetüren zum Raum neben der Küche schließt.
Ich erläutere Charlotte die Problem, schön wie im Deutschunterricht gelernt bei den kleineren beginnend bis zum großen Höhepunkt „Fuck off“ und sie beginnt schon bei den kleinen Wehwehchen von Kulturschock zu sprechen. Den Eklat heute Nachmittag versucht sie damit zu erklären, dass Australier eine andere Weise hätten, sich auszudrücken und degradiert ihn zu einem Missverständnis. Ich hätte ja nicht sofort geantwortet, Stuart hätte davon ausgehen müssen, dass ich ihn nicht verstehe. Ich sage ihr, dass es Punkte gibt, über die man nur hinausgeht, wenn man es möchte und dass ich der Überzeugung bin, dass dies ein solcher Punkt war und der Wille da war. Ich erzähle ihr noch einige andere Sachen und sie bittet mich um Kommunikation und die Beobachtung der australischen Lebensweise. Dann möchte sie mit meinen Gasteltern sprechen, Stuart scheint sich berufen zu fühlen und steht auf.
Durch die Wand höre ich nur „everyday, everyday, everyday!“ und habe nicht den Eindruck, dass er sich gerade positiv über mich äußert. Nach zehn oder fünfzehn Minuten kommt er wieder ins Wohnzimmer ohne etwas zu sagen. Wir drei gucken stillschweigend weiter Fernsehen und ich denke darüber nach, ob und wenn ja wann wir denn nun miteinander reden wollen, bis Jill fragt, was denn nun bei Stuarts Gespräch mit Charlotte herausgekommen sei. Sie würde nach einer anderen Gastfamilie für mich suchen, sagt er. Und morgen anrufen und eventuell vorbeikommen. Als er wieder in die Küche geht, fragt Jill mich: „Did you ask to leave?“ und ich antworte wahrheitsgemäß mit „No, I did not“. Gleichzeitig fühle ich aber, wie mich ein wohlig warmes Gefühl durchströmt bei dem Gedanken an einen Gastfamilienwechsel. Ich finde, das ist irgendwie ein Zeichen.
Als Big Brother endlich zu Ende ist, gucken wir eine neue Folge der Piratenserie, die sich inhaltlich fast vollständig mit der vorhergehenden deckt. Jill fragt mich, ob ich lieber etwas anderes sehen würde und ich meine, dass sie das ruhig aussuchen könne, schließlich würde ich beide Serien, die derzeit liefen, noch nicht kennen.
„Pirates Master“ läuft länger, als es die anderen Serien tun und Jill geht um viertel nach acht ins Bett. Ich bleibe noch ein wenig, damit es nicht so aussieht, als flüchte ich und gehe dann auch in mein Zimmer. Zu müde und auch zu gestresst, um noch am Laptop den Tagesbericht fertigzustellen, falle ich in mein Bett, den Wecker auf fünf vor sechs gestellt.